DAS NARRENSCHIFF
"Gehses "Narrenschiff" versammelt obskure Zeitgenossen, Masken und Dämonen auf einem untergehenden Schiffchen. Unmerklich von der Bildmitte verrückt, sie aber noch tangierend, ragt eine dem Anschein nach akademisch gewandete Figur auf, angetan mit einem großen Barett. Die Wirkung der Figur ist zunächst staatstragend, sie knüpft an die bekannten Formen akademischer Auftritte an. Es stellt sich aber rasch heraus, dass der of fizielle Habitus nicht ganz so fein ist wie er vorgibt zu sein. Vielleicht handelt es sich nur um eine etwas verlotterte Magnifizenz, eher aber um einen Demagogen, einen politischen Gaukler, der gewinnendes Lächeln und deklamatorische Geste einstudiert hat. Seine näch sten Beifiguren klären uns auf: eine Ansammlung von Geistern und Dämonen - ein schließlich dem Tod -, die grimassierend und trompetend den Vortrag des großen Demagogen begleiten. Der Krieger im Unterhemd links, der begeistert den kriegsversehr ten Arm mit der Hakenhand hochreißt, schießt mit der Rechten Salut. Die fortwährenden Kriege haben den Soldaten nicht nur seine linke Hand gekostet, sondern eine besondere Verrohung erzeugt, deren Kern hier bloßgelegt ist. (...)Das akademisch-gentlemanhafte Getue des großen vortragenden Demagogen ködert also nicht nur mit salbungsvoller Rede. Ihm steht als Hilfscharge der Spezialist für das Besinnli che zur Seite: der hohe Kleriker mit dem scheinreligiösen Gehabe. Der sitzt sanft und still in der rechten Hälfte des Bootes, als warte er noch auf seinen Einsatz. Das Gesicht unter dem Birett spricht für sich: aufgequollenes Fleisch mit Säufernase und ordinär geformter Mundöffnung. Der verdorbene Greis, der dort sitzt, ist die fleischgewordene Perversion des Christentums. (...)Die einzige Frauenfigur unserer Bootsgesellschaft, platziert zwischen dem großen Dem agogen und seinem geistlichen Verbündeten, scheint in eine seltsame Starre gefallen zu sein. Der traumverlorene Ausdruck hebt ihre Schönheit noch hervor. Sie mündet in Bitter nis und spricht etwas Unabänderliches aus, vor dem es kein Zurück gibt.Die kleinen Männer vor ihrer Brust,vielleicht noch Kinder, sind schon ausgerüstet mit Stahl helm und Gasmaske für den nächsten Krieg. Und die Schwesterntracht der Frau enthüllt nun ihren Sinn: Sie, die eben die Kinder zur Welt gebracht hat, wird die Männer in den Kriegen beim Sterben pflegen, als Krankenschwester und mit geistlichem Zuspruch in der Letzten Stunde. (...)Es wäre alles so traurig und noch mehr, wäre da nicht der Mann mit Helm am rechten Rand, der uns direkt anblickt. Er ist schon teilweise verdunkelt von den schweren Wettern, die rechts aufziehen. Diese Finsternis ist es, die Boot und Insassen nach dem Zerstörerischen Spiel der Wellen schließlich verschlingen wird. Aber jetzt, bevor es soweit ist, schaut dieser Mann ganz klar auf uns. Er gleicht dem allwissenden Erzähler in einem Roman, der sich eben mal unter seine Figuren gemischt hat. Er hat die Allwissenheits-Perspektive, ist nicht nur handelnde Figur im geschilderten Vorgang, sondern auch derjenige, der jederzeit aus dem Zusammenhang springen und sich an seinen Betrachter wenden kann. (...)Gehses künstlerische Analyse bewegt sich ganz auf der Höhe einer wissenschaftlich-kriti schen Analyse, die sich dem chaotischen Gewühl der Phänomene öffnet und unbeirrt Kurs hält zwischen bloßer Tatsachendarstellung und empiriefremder Abstraktion. (...)Der Maler versteigt sich nicht dazu, uns Handlungsanweisungen zu geben. Gott sei Danknicht! Aber er verschweigt auch nicht seine Überzeugung von Macht und Unabschließbarkeit der Erkenntnis."
(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)
TISCHGESELLSCHAFT
"Eine seltsame, spätabendliche Runde ist an einem etwas verkommenen Strand abschnitt versammelt. Der Blick fällt nahsichtig auf fünf männliche Personen an einem Tisch, hinterfangen von einem geborstenen Bretterzaun und düsterem Himmel. Das Tischtuch wirkt unfrisch und leuchtet in warmen und kalten Grün tönen. Darauf liegt ein Fisch. (...)Das Figurenverhalten bietet recht präzise Anhaltspunkte für Charakter und Befindlichkeiten der Beteiligten. Der Mann im Profil ganz links, altersstarr und in be tont aufrechter Haltung, fixiert mit Glotzaugen ein imaginäres Ziel, derweil ein kleinwüchsiger Bursche zwischen eingezogenen Schultern auf ihn einredet. Ob der Alte mit dem Rotweinglas wirklich noch mitbekommt, was der Jüngere ihm sagt, muss offen bleiben. Der Habitus insgesamt verrät jedenfalls einen ange knacksten Zustand, mit dem der Alte der Assistenzperson mit ihrem spezifischen Ausdruck von Durchtriebenheit vielleicht nicht gewachsen ist.ln der Mitte sitzt ein kraftmeiernder Halunke, der auf der Tischplatte mit seinem rechten Arm und seiner zu einer Tierklaue mutierten Hand eine primitive, räu berische Geste vollführt. Der Mann unmittelbar neben ihm stellt eine andere Spe zies Räuber dar: der balkanischeoder orientalische Typ, der, äußerlich beherrscht, sein Opfer nicht aus den Augen lässt, um wie eine Mamba im letzten Augenblick erfolgreich zuzustoßen. Ihrer beider räuberisches Verhalten kann zur Illustrie rung der unterschiedlichen planenden Intelligenz des Menschen dienen: hier eine unreflektierte Spontanaktion mit allen Risiken, dort eine strategische Abwarte haltung, die präzise den Moment des Losschiagens bestimmt. Beider Vergehens weisen können als Ziel der Gelüste den einzelnen Herrn am rechten Rand meinen, vielleicht auch den kleinen Fisch. Der Herr jedenfalls schaut, ganz bei sich, blick los vor sich hin, ein Feingeist mit erkalteter Zigarre in der herabhängenden Hand. Man könnte fast meinen, er sei in einen meditativen Dialog versunken mit dem kleinen Fisch vor ihm. Das herrlich gemalte Tier ist eine Makrele. Sie ist vom Maler wie ein Schmuckobjekt, eine Brosche etwa, gestaltet und bildet auf der Tisch decke gegenüber den Gläsern und den Händen der Figuren ein eigenes Zentrum der Schönheit und Stille. (...)Das kleine Fischsymbol ohne eindeutigen Inhalt stellt sich heraus als Mittelpunkt dieser disharmonischen menschlichen Konstellation. Es ist der magische Mittel punkt der Tischgesellschaft. (...)Trotz aktiver Mimik und Gestik bei einem Teil der Figuren liegt eine merkwür dige Beklemmung über dieser Tischgesellschaft, eine irgendwie bedrückende Stille. Sie hat den größten Teil der Runde wohl schon erfasst als Vorbote einer bereits geahnten Katastrophe. Hier erweist sich spätestens, dass auch das große, grüne Tischtuch im Zentrum der Tischgesellschaft ein Sinnträger ist. Es ruft die Assoziation von Spieltisch herbei, an dem die Spieler ihre Einsätze machen. Und der nahende Umschlag in die Katastrophe zeigt an, dass es hier um den Einsatz des Lebens geht, bei dem es keinen Gewinner geben wird. (...)Sie wähnen sich noch sicher in ihrer begrenzten Welt, obwohl der hohe Palisa denzaun teilweise schon weggebrochen ist. Dabei ist das Ungeheuer bereits ein gedrungen und jede Gegenwehr wäre jetzt illusionär. (...)"
(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)
MELODIE DER KREUZZÜGE
"Links steht nahsichtig die Halbfigur des Fischers, in der Mitte der schlanke musizierende Jüngling in Ganzfigur. Im rechten Segment findet das Leben vom Mittelalter bis heute statt, ein gewaltiger Bilderbogen, durchsetzt mit Handlungen und Gesichtern, gewalttä tigen und stillen Figuren. Dies ist Maler Gehses satirischer Monolog über die "Größen" der alten und neueren Geschichte in Europa; so findet hier u.a. die satirische Zerstörung des Nimbus um Lenin und Hitler statt, die BioBiegung von Habgier und Banausenturn der allerchristlichsten Repräsentanten. (...)Auf der rechten Bildseite ganz unten in dem turmartigen Figurenaufbau gewahren wir die Halbfigur eines Ritters, der irgendeinen blutigen Balg im Arm hält und das große ei serne Kreuz mit der Faust umklammert. Rechts davon leuchtet in zaghaftem Weiß das Lamm Gottes. (...)Die religiösen Eiferer, die sich vom Ende des 11. bis Ende des 13. Jahrhunderts nach Palästina aufmachten, um das Heilige Land mit dem Heiligen Grab Jesu von den Mohamme danern zu befreien, hatten durchaus auch handfeste weltliche Gründe für ihre Teilnahme: die häufig wirtschaftlich desolate Situation in der Heimat, die Aussicht auf Beute und die kirchliche Verheißung himmlischen Lohns. Christliche und moslemische Kämpfer haben sich in ihrem gegenseitigen Kampf gegen die "Ungläubigen" nichts geschenkt.(...)Direkt hinter dem Eisenkreuz, wie hinter großen Gitterstreben, prangt der Kopf Napoleons I. mit dem Zweispitz. Das Gesicht sieht müde aus. Er war es, der die Ideale und Tugenden der Großen Französischen Revolution aus dem Chaos der beginnenden Klassenauseinandersetzungen in Frankreich von der Straße aufhob, sie erneut als Menschheitsziele inszenierte und damit Europa eroberte. (...)Lenin ist bei Gehse die kleinste aller Verbrecherfiguren, aber von ihm stürzt Fahnenrot und Blut in breiten Bahnen herab. Und in den etwa sieben Jahrzehnten totalitärer Herr schaft, die auf ihn zurückgehen, sind im Namen der Idee des Kommunismus wahrlich Ströme von Blut geflossen. (...)Erschrecken und Angst des einfachen Mannes ist groß, seine Empörung auch, aber unterhalb der aufgerissenen Augen, tief in seiner Brust, sitzt sein zweites Gesicht, das uns sagt: Der Mensch ist verzagt, feige und wird wieder passiv bleiben, schweigen und auch wieder mitmachen, wenn es verlangt wird, opportun ist und ihm irgendwie weiterhilft. (...)Der vor Schrecken starre Mann mit dem Fisch hat nicht nur weit aufgerissene Augen, sondern auch einen geöffneten Mund.Der geöffnete Mund des Mannes mit dem Fisch sagt beides: die Ankündigung vom Bruch mit dem lange verordneten Schweigen, der von den gesellschaftlichen Gruppen fest ver abredete Wille, die schmerzliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ohne Rache gelüste und in einer offenen demokratischen Form angstfrei zu führen. Aber das Bildnis enthält auch die andere, schreckliche Option.Der weit aufgerissene Mund bringt wie sein Zwilling, der fest geschlossene Mund, vorSchreck kein Wort heraus. (...)Sich den Schrecken der Vergangenheit stellen heißt, sich der Erinnerung stellen, all dem, was einmal durch die weit aufgerissenen Augen gegangen ist. Dies kann nur aktiv gesche hen mit einem Mund, der Erinnertes wortreich ausspricht und die Geschichte der Stagna tion beendet, die Geschichte des Schweigens."
(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)
VARIETE
"Der Denker schaut in eine unbestimmte Ferne. Der Zauberkasten mit der schönen Frau stellt seine geistige Geburt dar, Schönheit, Klugheit und Wohlproportioniertheitseines Denkens. Denkend beobachtet er den Widersacher, unablässig und genau. Der steht als Täter und Aktivist, auch politisch, da, mit festem Blick geradeaus und bleckt die Zähne. Der Denker, Lehrer und der aktivistische Täter stehen in einem moralisch-politischen Stück, einem Lehrstück, einander gegenüber, das die Menschen meint, unter anderem auch die, die da unten im Publikum sitzen. Es geht um die geistigen Grundlagen des gesamten Lebens nach den stattgefundenen und den anhaltenden Erschütterungen unserer Gegenwart. Wer hat die besseren Einsichten über die neu einzuschlagenden Wege? Wer weiß das unbekannte Neue zu deuten, wie sieht eine weiterführende Wahr heit als mögliche Richtschnur menschlichen Handeins aus?Die beiden Exponenten menschlichen Handeins sind die bildliehe Veranschaulichung vonmoralisch-politischen Grundpositionen, deren kämpferische Auseinandersetzung, zahlreich variiert, in jedem Augenblick in jedem Einzelnen sich abspielen kann. (...)Aber wie fabelhaft-realistisch, buchstäblich, setzt der Maler diese Grundpositionen ins Bild! Der große Täter brilliert mit physischer Kraft und Einseitigkeit. Er hält triumphie rend eine Dompteur-Peitsche in der Rechten, mit der er Herr über die Löwen ist. Im Mittel grund leuchtet auf, was als Ausfluss seines Denkens- durch ihn entstanden, aber von ihm nicht mehr kontrollierbar- auf uns zukommt: eine schwarz gewandete Gestalt, vermummt und anonym, die Figur des Terroristen.Der nachdenkliche Widersacher beschränkt sich nicht auf die Beobachtung seines Gegners. Er versucht auf ihn einzuwirken und schickt den Zwerg aus. Es gibt eine europäische Früh form der Vorstellung vom Zwerg seit dem Mittelalter (Bernardus Silvestris, 12. Jahrhun dert), die den Zwerg auf den Schultern eines Riesen festhält, als Hüter der Tradition und auch als kluger Weiterdenkender. Der vom Denkriesen ausgeschickte Zwerg hält dem Ma cher den Spiegel vor und ruft ihm zu, sich darin zu erkennen.Der große Täter würde durch eine Demonstration physischer Stärke vielleicht eher beeindruckt als durch Klugheit und die Aufforderung, die Verantwortung seines Tuns zu beden ken. Man kann nur hoffen, wir alle können nur hoffen, dass der nachdenkliche Teil der Gesellschaft immer wieder den Zauberkasten öffnet. Der hohen Ebene des Theaters, der Bühnenwirklichkeit, antwortet die niedere Ebene des gemeinen Lebens.Zunächst der hochaufgeschossene junge Ober, der die Augen verdreht und denkt "Schon wieder", weil er die Bühnenshow bis zum Erbrechen kennt. (...)Die Zuschauer, es sind sieben an der Zahl, gehen ihren Neigungen nach: Sie zeigen sich, schauen zu, flirten,träumen. Der alte Glatzkopf rechts unten schaut, durch irgendetwas in seinem Tun oder auch Nichtstun unterbrochen, mit einer sparsamen Drehung seines Kopfes zu uns herüber, aufmerksam, wach, fast misstrauisch. (...)Eine elegante alte Dame im roten Haute-Couture-Kleid nebst Strohhut, rot bebändert, sitzt da. Ihr Blick geht aus dem Bild heraus, gedankenverloren und in die Weite. Sie nimmt wohl nicht wahr, was um sie herum passiert, oder hat sie schon genug wahrgenommen?Ist sie das alt gewordene Rotkäppchen, das sich erinnert und darüber seinen Eisbecher ver gisst, seit es auf die Bühne geschaut und im besternten Märchenhimmel seinen Gegenspie ler, den alt gewordenen bösen Wolf gesehen hat, hier als alten Löwen, der zum letzten Mal sich anschickt zu brüllen?(...)"
(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)
DAS SKLAVENSCHIFF
Der junge Schwarze greift dem weißen Mann an den Hals, genauer gesagt, an die Krawatte, was jenen vor Wut und Angst imGesicht rot anlaufen lässt. Sichtlich wehrt er sich nicht, sondern er reißt nur, ängstlich sichernd, seinen linken Arm hoch, dessen Hand einen wohlgefüllten Beutel mit Geld oder Preziosen umklammert. Neben diesen beiden Zentralfiguren gibt es links und rechts kleine Menschenansammlungen aus dem Räuber- und Piratenmilieu bzw. mit bürgerlichen und Militär-Personen in der Kostümierung des 18. und 19. Jahrhunderts. Mitten durch die Szenerie läuft freundlich-interessiert eine Dame, nur mit schwarzen Halbstiefeln und langen schwarzen Handschuhen bekleidet. Das Ganze findet auf einem Schiffsdeck statt. Der junge Schwarze wird erläutert durch einen seitlich hinter ihm liegenden oder stürzenden alten Sklaven, der mit der eisernen Kette um den Hals gerade sein Leben lässt.
Es geht um die empörende Praxis des Sklavenhalterturns in der US-amerikanischen Gesellschaft des 18./19. Jahrhunderts, wo gelegentliche Negeraufstände die weißen Farmer um ihren Besitz fürchten ließen. Das Militär stellte die alten Zustände jedes Mal rasch wieder her. Oft tat es der weiße Siedler persönlich und aus eigener Machtbefugnis, wie jener Herr mit Zylinder, der aus demHintergrund mit der Pistote zielt. Ob auf den jungen Schwarzen, oder ob er den alten Sklaven gerade erschossen hat, bleibt offen. Berüchtigt wurde ein Prozess wegen Mordes gegen einen Sklavenhalter im Jahre 1846 ("Dred Scott case") am Supreme Court inWashington, bei dem der Täter freigesprochen wurde. Die Begründung des Gerichts lautete damals, dass Sklaven nicht Menschen sondern Sachen sind, bewegliches Eigentum, das man nicht ermorden könne.
SALON 'ZUM STEINLACHS'
Hinter der Vordergrundbühne entfaltet sich eine, auch farblich, hochgradig diffuse Szenerie, angefüllt mit Rausch, Begehren undVerfall. Die Szene von purer Lust im Mittelgrund schiebt sich über das grüngesichtige Opfer nach vorn und mündet in den großenFisch, der als wuchtige Metapher zusammenfasst: Nacktheit, funkelnde Sinnlichkeit und Schönheit.
Diese Gefühlsweit wäre unvollständig ohne ihr ewiges Pendant. Dem Genuss folgt der Widerpart als sein Schatten, der inbestimmten Konstellationen Empfindsame von Anfang an unglücklich beherrscht. ln dem ungemein labilen Seelenzustand kommen hocherotische Ausstrahlung, Hypochondrie und Pathos des Leidens zusammen.
Den hochgepeitschten Emotionen der Liebe antwortet in dem Vordergrund-Paar ein Zustand von Traurigkeit und Entsagung. DerFisch, das große Sex-Symbol, verbindet und trennt das ungleiche Paar.
Die entblößte junge Frau und der alte Kavalier verharren, abseits von Moralfragen, in der stillen Dramatik des Konflikts der ungleichenLiebenden.
ORSON WELLES, NACHDENKLICH
Orson Welles ist zwar als bildeinwärts gehende Rückenfigur wiedergegeben, erkennbar durchsein vom Maler praktischerweise auf dem Rücken angebrachten Bildnis. Mit dieser porträthaftbezeichneten Titelfigur beendet der Maler aber auch schon die Wiedergabe des Konkreten,des im Detail historisch Nachprüfbaren zu Person und Werk von Orson Welles.Statt dessen entfaltet sich um die Figur von Orson Welles die ganz eigene Imagination desMalers, ein malerisches Konglomerat von Partikeln, Teilgeschichten aus Vorstellung undWirklichkeit, bei dem eine Einheit von Handlung, Zeit und Raum nicht existiert. Die Zerstörungdes Raum-Zeit-Kontinuums und die Zersetzung des geschlossenen Handlungsablaufs, wiesie sich in der Kunst der Moderne herausgebildet haben, binden Gehses 'Hommage a OrsonWelles'-Bild und Orson Welles' filmkünstlerische Arbeit aneinander. Besonders dessen genialenErstling 'Citizen Kane' (1940), der seither immer wieder von internationalen Juroren andie Spitze der Filmbestenliste aller Zeiten gesetzt wird .
Das Ungewöhnliche und das Normale oder Banale sind hier - wie auch sonst in GehsesBildwelt- keine abgegrenzten Größen mehr, die in einem festen Bezugssystem stehen. Allesist fest und zugleich unfest, alles und jedes kann sich verändern.Ein Geschehen kann normal und schrecklich zugleich sein, wie das Normale und dasErschrecken darüber in diesem Bild überhaupt Ereignis geworden sind. Ganz augenfällig amrechten Bildrand, beim Turm der Köpfe bis hinauf zum Trompeter. Wie dieser die historische,über allem schwebende Figur des barocken Posaunenengels aufnimmt und nun eingeht indie schreckliche, diesseitige Form des Mannes, der - vielleicht als Mitglied eines KZ-Orchesters- um sein Leben bläst.Wenn man Orson Welles nachsagt, dass er keinen neuen Stil geschaffen habe, aber jederseiner Filme irgendwie 'Orson-Welleshaft' geraten sei, so ist das eigentlich der Ritterschlagfür jeden Künstler. Stilwerdung bedeutet notwendig Verfestigung, gleichsam ein Zubetonierender offenen künstlerischen Mache, ihre Überführung in lehrbares und lernbares künstlerischesRegelwerk. Der zwanghaften Verregelung, die uns in unserm Leben allerorts begegnet,antworten Orson Welles und Albrecht Gehse mit ihrer ganz persönlichen Willkür. Die istnicht trocken, chaotisch oder kriminell, sondern schöpferisch und aufreizend, was nicht nurFilmen und Ölbildern gut täte.Wenn wir etwas Persönliches, eine persönliche Hinwendung des Malers zu seinem bewundertenVorbild in der Filmkunst suchen, dann finden wir sie im landschaftlichen Hintergrundseines Bildes. Die abweisende Gebirgsnatur, die eisigen Höhen mit ihrer düsteren Schönheit,sie können wir als Parabel ansehen für Isolation und grandiose Düsternis in Leben undSterben des citizen Kane.
DER EWIGE MACHER
Die Hauptfigur ist eingebettet in einen assoziativen Zusammenhang mit anderen Phänomenen: mit einem schwebenden Kopf, einerverhüllten Frau und einem in ein sehnsuchtsvolles Finale eintauchenden Musiker. Sie befinden sich mitsamt einigen ausschnitthaften.bizarren Szenen in Kontrast zum Aktivismus der Vordergrundfigur. Sie sind das reflexive Element, malerisch verschlüsselteEinwendungen, Widersprüche, Warnungen zu der großen Gegenfigur in diesem Universalkonflikt."Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende." (Goethe, Maximen und Reflektionen)
Polypragmosyne
Zum Bild 'Der ewige Macher' von Albrecht Gehse
Wolfgang Maaz
Vor wem stürzt Gehses 'Ewiger Macher', dem der Blues in den Ohren klingen mag, der den Verlockungen der Lust den Rückenkehrt, eigentlich davon? Es wäre krude Didaxe, wenn man meinte: Er fliehe, in Panik geraten, gleichsam vor der eigenen aufgezwungenenExistenzform.Gehse, hier ganz 'pictor doctus', ruft vielmehr als Kronzeugen gegen den 'Ewigen Macher' die Prudentia, die kluge Voraussicht alsRepräsentantin der Lebenskunst auf. Das körperlose, aufmerksam und überlegen zugleich blickende Haupt, das genau diagonalzum Kopf des Weghetzenden situiert ist, evoziert Tizians Gemälde 'An Allegory of Prudence' (ca. 1560-1570, heute National Gallery,London). Es geht um die Selbstklugheit, um die Erkenntnis: Wenn unermüdlich vom 'Segen der Arbeit' geredet wird , so liegt demdie Furcht vor dem individuellen Leben zugrunde. Der blindwütige Fleiß des 'homo faber' verhindert eine Erneuerung der seit derAntike bestehenden Hochschätzung der Muße. Der ausgewogene Rhythmus zwischen dem das Lebensgefühl steigerndenTätigsein und der Muße, in der das Nachdenken, Grübeln, Träumen, Lieben, Sorgen und auch Hassen kultiviert werden kann, istganz im Sinne der Tizianischen Prudentia anzustreben.Gehses 'Ewiger Macher' steht in der Tradition des bereits im Mittelalter tradierten Mahnbildes. "Betrachter, vergiss nicht dass auchDu ein Vielgeschäftiger bist"! Gegen alle wildgewordenen Macher in allen Firmen undÄmtern dieser Welt stellt Gehse fest: Tätigsein entscheidet sich als kulturelle Frage.