DAS NARRENSCHIFF

"Gehses  "Narrenschiff" versammelt obskure Zeitgenossen, Masken  und  Dämonen auf einem untergehenden Schiffchen. Unmerklich von der Bildmitte verrückt, sie aber  noch tangierend, ragt  eine  dem Anschein  nach akademisch gewandete Figur auf, angetan mit einem  großen  Barett. Die Wirkung der Figur ist zunächst staatstragend, sie knüpft an die bekannten Formen akademischer Auftritte an. Es stellt  sich aber rasch heraus, dass der of­ fizielle Habitus nicht  ganz so fein ist wie er vorgibt zu sein. Vielleicht handelt es sich nur um eine  etwas  verlotterte Magnifizenz, eher  aber  um einen  Demagogen, einen  politischen Gaukler, der gewinnendes Lächeln und deklamatorische Geste einstudiert hat. Seine näch­ sten  Beifiguren klären uns  auf:  eine  Ansammlung von  Geistern  und  Dämonen - ein­ schließlich dem  Tod  -, die  grimassierend und   trompetend den  Vortrag des  großen Demagogen begleiten. Der Krieger  im Unterhemd links, der begeistert den kriegsversehr­ ten  Arm mit  der Hakenhand hochreißt, schießt mit  der Rechten Salut. Die fortwährenden Kriege  haben  den Soldaten  nicht nur seine linke  Hand gekostet, sondern eine besondere Verrohung erzeugt, deren  Kern hier bloßgelegt ist. (...)Das akademisch-gentlemanhafte Getue des großen vortragenden Demagogen ködert also nicht nur  mit salbungsvoller Rede. Ihm steht  als Hilfscharge der Spezialist für das Besinnli­ che zur Seite: der hohe  Kleriker mit  dem scheinreligiösen Gehabe. Der sitzt sanft  und still in der rechten Hälfte des Bootes, als warte er noch auf  seinen Einsatz. Das Gesicht unter dem  Birett spricht  für  sich: aufgequollenes Fleisch mit  Säufernase und  ordinär geformter Mundöffnung. Der verdorbene Greis, der dort sitzt, ist die fleischgewordene Perversion des Christentums. (...)Die einzige Frauenfigur unserer  Bootsgesellschaft, platziert zwischen  dem  großen Dem­ agogen und  seinem  geistlichen Verbündeten, scheint  in eine seltsame Starre gefallen zu sein. Der traumverlorene Ausdruck  hebt  ihre Schönheit  noch hervor. Sie mündet in Bitter­ nis und spricht  etwas  Unabänderliches aus, vor dem es kein Zurück gibt.Die kleinen Männer vor ihrer Brust,vielleicht noch Kinder, sind schon ausgerüstet  mit Stahl­ helm  und  Gasmaske für  den  nächsten  Krieg.  Und die Schwesterntracht der Frau enthüllt nun  ihren Sinn: Sie, die  eben  die  Kinder  zur Welt  gebracht hat, wird die Männer in den Kriegen beim Sterben pflegen, als Krankenschwester und mit  geistlichem Zuspruch in der Letzten Stunde. (...)Es wäre alles so traurig und noch mehr, wäre da nicht der Mann mit Helm am rechten Rand, der  uns direkt anblickt. Er ist schon teilweise verdunkelt von den schweren  Wettern, die rechts aufziehen. Diese Finsternis  ist es, die Boot  und  Insassen nach dem  Zerstörerischen Spiel der Wellen  schließlich  verschlingen wird. Aber jetzt, bevor es soweit ist, schaut dieser Mann ganz  klar  auf  uns. Er gleicht dem  allwissenden Erzähler  in einem  Roman, der sich eben mal unter  seine Figuren gemischt  hat. Er hat die Allwissenheits-Perspektive, ist nicht nur  handelnde Figur im geschilderten Vorgang, sondern auch derjenige, der jederzeit aus dem Zusammenhang springen und sich an seinen Betrachter wenden kann. (...)Gehses künstlerische Analyse bewegt sich ganz  auf  der Höhe einer  wissenschaftlich-kriti­ schen Analyse, die sich dem chaotischen Gewühl der Phänomene  öffnet und unbeirrt Kurs hält zwischen bloßer  Tatsachendarstellung und empiriefremder Abstraktion. (...)Der Maler  versteigt sich nicht dazu, uns Handlungsanweisungen zu geben. Gott  sei Danknicht! Aber er verschweigt auch nicht  seine Überzeugung von Macht und Unabschließbar­keit  der Erkenntnis."



(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)

TISCHGESELLSCHAFT

"Eine seltsame, spätabendliche Runde ist an einem  etwas verkommenen Strand­ abschnitt versammelt. Der Blick fällt nahsichtig auf  fünf  männliche Personen an einem  Tisch, hinterfangen von einem  geborstenen Bretterzaun und  düsterem Himmel. Das Tischtuch wirkt unfrisch  und  leuchtet in warmen und kalten Grün­ tönen. Darauf  liegt  ein Fisch. (...)Das Figurenverhalten bietet recht  präzise Anhaltspunkte für  Charakter und  Be­findlichkeiten der Beteiligten. Der Mann  im Profil ganz links, altersstarr und in be­ tont aufrechter Haltung, fixiert mit  Glotzaugen ein imaginäres Ziel, derweil ein kleinwüchsiger Bursche zwischen  eingezogenen Schultern  auf  ihn einredet. Ob der Alte  mit  dem Rotweinglas wirklich noch mitbekommt, was der Jüngere  ihm sagt, muss offen bleiben. Der Habitus  insgesamt  verrät jedenfalls einen  ange­ knacksten Zustand, mit  dem der Alte der Assistenzperson  mit  ihrem  spezifischen Ausdruck  von Durchtriebenheit vielleicht nicht  gewachsen  ist.ln der Mitte sitzt ein kraftmeiernder Halunke, der auf der Tischplatte mit seinem rechten Arm  und  seiner  zu einer  Tierklaue mutierten Hand eine primitive, räu­ berische Geste vollführt. Der Mann unmittelbar neben ihm stellt eine andere Spe­ zies Räuber dar: der balkanischeoder orientalische Typ, der, äußerlich beherrscht, sein Opfer  nicht  aus den Augen  lässt, um wie eine Mamba  im letzten Augenblick erfolgreich zuzustoßen. Ihrer  beider  räuberisches Verhalten kann  zur Illustrie­ rung der unterschiedlichen planenden Intelligenz des Menschen dienen: hier eine unreflektierte Spontanaktion mit  allen  Risiken, dort eine strategische  Abwarte­ haltung, die präzise den Moment des Losschiagens bestimmt. Beider Vergehens­ weisen können als Ziel der Gelüste den einzelnen Herrn am rechten Rand meinen, vielleicht auch den kleinen Fisch. Der Herr jedenfalls schaut, ganz bei sich, blick­ los vor sich hin, ein Feingeist mit erkalteter Zigarre in der herabhängenden Hand. Man  könnte fast meinen, er sei in einen meditativen Dialog versunken  mit  dem kleinen Fisch vor ihm. Das herrlich gemalte Tier ist eine Makrele. Sie ist vom Maler wie  ein Schmuckobjekt, eine  Brosche etwa, gestaltet und  bildet auf  der Tisch­ decke gegenüber den Gläsern und den Händen  der Figuren ein eigenes Zentrum der Schönheit  und Stille. (...)Das kleine  Fischsymbol ohne eindeutigen Inhalt stellt  sich heraus als Mittelpunkt dieser disharmonischen menschlichen Konstellation. Es ist der magische  Mittel­ punkt der Tischgesellschaft.  (...)Trotz  aktiver Mimik und  Gestik bei einem  Teil der Figuren  liegt  eine  merkwür­ dige  Beklemmung über  dieser  Tischgesellschaft, eine  irgendwie bedrückende Stille. Sie hat  den größten Teil der Runde  wohl schon erfasst als Vorbote einer bereits  geahnten Katastrophe. Hier erweist sich spätestens, dass auch das große, grüne  Tischtuch  im Zentrum der Tischgesellschaft  ein Sinnträger ist. Es ruft die Assoziation von Spieltisch  herbei, an dem die Spieler ihre Einsätze machen. Und der nahende Umschlag  in die Katastrophe zeigt  an, dass es hier um den Einsatz des Lebens geht, bei dem es keinen  Gewinner geben  wird. (...)Sie wähnen sich noch  sicher in ihrer  begrenzten Welt,  obwohl der hohe  Palisa­ denzaun teilweise schon weggebrochen ist. Dabei ist das Ungeheuer bereits ein­ gedrungen und  jede Gegenwehr wäre  jetzt  illusionär. (...)"

 

(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)

MELODIE DER KREUZZÜGE

"Links  steht  nahsichtig die Halbfigur des Fischers, in der Mitte der schlanke musizierende Jüngling in Ganzfigur. Im rechten Segment  findet das Leben  vom  Mittelalter bis heute statt, ein gewaltiger Bilderbogen, durchsetzt mit  Handlungen und  Gesichtern, gewalttä­ tigen und  stillen Figuren. Dies ist Maler Gehses satirischer Monolog über  die  "Größen" der alten und  neueren Geschichte  in Europa; so findet hier  u.a. die satirische Zerstörung des Nimbus  um Lenin und Hitler statt, die BioBiegung von Habgier und Banausenturn der allerchristlichsten Repräsentanten. (...)Auf  der  rechten Bildseite ganz  unten in dem  turmartigen Figurenaufbau gewahren wir die Halbfigur eines Ritters, der irgendeinen blutigen Balg im Arm  hält und das große  ei­ serne  Kreuz  mit der  Faust umklammert. Rechts davon leuchtet in zaghaftem Weiß  das Lamm Gottes. (...)Die religiösen Eiferer, die sich vom Ende des 11. bis Ende des 13. Jahrhunderts nach Palä­stina  aufmachten, um das Heilige Land mit  dem Heiligen Grab Jesu von den Mohamme­ danern zu befreien, hatten durchaus  auch handfeste weltliche Gründe für ihre Teilnahme: die häufig wirtschaftlich desolate Situation in der Heimat, die Aussicht auf Beute und die kirchliche Verheißung himmlischen Lohns. Christliche und moslemische Kämpfer haben sich in ihrem gegenseitigen Kampf  gegen die "Ungläubigen" nichts geschenkt.(...)Direkt hinter  dem Eisenkreuz, wie hinter  großen Gitterstreben, prangt der Kopf Napoleons I. mit dem Zweispitz. Das Gesicht sieht müde aus. Er war es, der die Ideale und Tugenden der Großen Französischen  Revolution aus dem  Chaos der  beginnenden Klassenaus­einandersetzungen in Frankreich von der Straße aufhob, sie erneut als Menschheitsziele inszenierte und damit Europa eroberte. (...)Lenin  ist bei Gehse die  kleinste aller  Verbrecherfiguren, aber  von  ihm  stürzt  Fahnenrot und  Blut  in breiten Bahnen  herab. Und in den etwa  sieben Jahrzehnten totalitärer Herr­ schaft, die  auf  ihn  zurückgehen, sind  im  Namen  der  Idee  des Kommunismus wahrlich Ströme  von Blut  geflossen. (...)Erschrecken und  Angst  des einfachen Mannes  ist groß, seine Empörung auch, aber unter­halb  der aufgerissenen Augen, tief  in seiner Brust, sitzt sein zweites  Gesicht, das uns sagt: Der Mensch ist verzagt, feige und wird wieder passiv bleiben, schweigen und auch wieder mitmachen, wenn es verlangt wird, opportun ist und  ihm  irgendwie weiterhilft. (...)Der vor Schrecken starre Mann mit  dem Fisch hat nicht nur weit aufgerissene Augen, son­dern  auch einen  geöffneten Mund.Der geöffnete Mund des Mannes  mit  dem Fisch sagt beides: die Ankündigung vom Bruch mit  dem  lange  verordneten  Schweigen, der von den gesellschaftlichen Gruppen fest ver­ abredete Wille, die schmerzliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ohne Rache­ gelüste  und  in einer  offenen demokratischen Form angstfrei zu führen. Aber  das Bildnis enthält auch die andere, schreckliche  Option.Der  weit aufgerissene Mund bringt  wie  sein Zwilling, der  fest  geschlossene  Mund, vorSchreck kein Wort heraus. (...)Sich den Schrecken der Vergangenheit stellen  heißt, sich der Erinnerung stellen, all dem, was einmal durch die weit aufgerissenen Augen  gegangen ist. Dies kann nur aktiv  gesche­ hen mit  einem  Mund, der Erinnertes wortreich ausspricht  und  die Geschichte der Stagna­ tion beendet, die Geschichte des Schweigens."


(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)

VARIETE

"Der  Denker  schaut in eine unbestimmte Ferne. Der Zauberkasten mit  der schönen Frau stellt  seine geistige Geburt dar, Schönheit, Klugheit und Wohlproportioniertheitseines Denkens. Denkend beobachtet er den Widersacher, unablässig und genau. Der steht als Täter und Aktivist, auch politisch, da, mit  festem Blick geradeaus  und bleckt  die Zähne. Der Denker, Lehrer und der aktivistische Täter stehen in einem  moralisch-politischen Stück, einem  Lehrstück, einander gegenüber, das die Menschen  meint, unter  anderem auch die, die da unten im Publikum sitzen. Es geht  um die geistigen Grundlagen des gesamten Lebens nach den stattgefundenen und den anhaltenden Erschütterungen unserer  Gegenwart. Wer hat die besseren Einsichten über die neu einzuschlagenden Wege? Wer weiß das unbekannte Neue zu deuten, wie sieht eine weiterführende Wahr­ heit  als mögliche Richtschnur  menschlichen Handeins  aus?Die beiden Exponenten menschlichen Handeins sind die bildliehe Veranschaulichung vonmoralisch-politischen Grundpositionen, deren kämpferische Auseinandersetzung, zahl­reich variiert, in jedem  Augenblick in jedem  Einzelnen  sich abspielen kann. (...)Aber wie fabelhaft-realistisch, buchstäblich, setzt der Maler  diese Grundpositionen ins Bild! Der große Täter brilliert mit  physischer Kraft und Einseitigkeit. Er hält triumphie­ rend  eine Dompteur-Peitsche in der Rechten, mit der er Herr über die Löwen ist. Im Mittel­ grund leuchtet auf, was als Ausfluss seines Denkens- durch ihn entstanden, aber von ihm nicht  mehr kontrollierbar- auf uns zukommt: eine schwarz gewandete Gestalt, vermummt und anonym, die Figur des Terroristen.Der nachdenkliche Widersacher  beschränkt sich nicht auf die Beobachtung seines Gegners. Er versucht auf ihn einzuwirken und schickt den Zwerg aus. Es gibt  eine europäische Früh­ form der Vorstellung vom Zwerg seit dem Mittelalter (Bernardus Silvestris, 12. Jahrhun­ dert), die den Zwerg auf den Schultern eines Riesen festhält, als Hüter der Tradition und auch als kluger  Weiterdenkender. Der vom Denkriesen ausgeschickte Zwerg hält dem Ma­ cher den Spiegel vor und ruft ihm zu, sich darin  zu erkennen.Der große Täter würde durch eine Demonstration physischer Stärke vielleicht eher beein­druckt als durch Klugheit und die Aufforderung, die Verantwortung seines Tuns zu beden­ ken. Man kann nur hoffen, wir alle können nur hoffen, dass der nachdenkliche Teil der Gesellschaft immer  wieder  den Zauberkasten  öffnet. Der hohen Ebene des Theaters, der Bühnenwirklichkeit, antwortet die niedere  Ebene des gemeinen Lebens.Zunächst der hochaufgeschossene  junge Ober, der die Augen verdreht und denkt  "Schon wieder", weil er die Bühnenshow bis zum Erbrechen kennt. (...)Die Zuschauer, es sind sieben an der Zahl, gehen ihren Neigungen nach: Sie zeigen sich, schauen zu, flirten,träumen. Der alte Glatzkopf rechts unten schaut, durch irgendetwas in seinem Tun oder auch Nichtstun unterbrochen, mit einer sparsamen Drehung seines Kopfes zu uns herüber, aufmerksam, wach, fast misstrauisch. (...)Eine elegante alte Dame im roten Haute-Couture-Kleid nebst Strohhut, rot bebändert, sitzt da. Ihr Blick geht aus dem Bild heraus, gedankenverloren und in die Weite. Sie nimmt wohl nicht  wahr, was um sie herum  passiert, oder hat sie schon genug  wahrgenommen?Ist sie das alt gewordene Rotkäppchen, das sich erinnert und darüber  seinen Eisbecher ver­ gisst, seit es auf die Bühne geschaut und im besternten Märchenhimmel seinen Gegenspie­ ler, den alt gewordenen bösen Wolf  gesehen hat, hier als alten Löwen, der zum letzten Mal sich anschickt zu brüllen?(...)"

 

(aus: Wolfgang Thiede, Zeitenwende)

DAS SKLAVENSCHIFF

Der junge Schwarze greift dem weißen Mann an den Hals, genauer gesagt, an die Krawatte, was jenen vor Wut und Angst imGesicht rot anlaufen lässt. Sichtlich wehrt er sich nicht, sondern er reißt nur, ängstlich sichernd, seinen linken Arm hoch, dessen Hand einen wohlgefüllten Beutel mit Geld oder Preziosen umklammert. Neben diesen beiden Zentralfiguren gibt es links und rechts kleine Menschenansammlungen aus dem Räuber- und Piratenmilieu bzw. mit bürgerlichen und Militär-Personen in der Kostümierung des 18. und 19. Jahrhunderts. Mitten durch die Szenerie läuft freundlich-interessiert eine Dame, nur mit schwarzen Halbstiefeln und langen schwarzen Handschuhen bekleidet. Das Ganze findet auf einem Schiffsdeck statt. Der junge Schwarze wird erläutert durch einen seitlich hinter ihm liegenden oder stürzenden alten Sklaven, der mit der eisernen Kette um den Hals gerade sein Leben lässt.

Es geht um die empörende Praxis des Sklavenhalterturns in der US-amerikanischen Gesellschaft des 18./19. Jahrhunderts, wo gelegentliche Negeraufstände die weißen Farmer um ihren Besitz fürchten ließen. Das Militär stellte die alten Zustände jedes Mal rasch wieder her. Oft tat es der weiße Siedler persönlich und aus eigener Machtbefugnis, wie jener Herr mit Zylinder, der aus demHintergrund mit der Pistote zielt. Ob auf den jungen Schwarzen, oder ob er den alten Sklaven gerade erschossen hat, bleibt offen. Berüchtigt wurde ein Prozess wegen Mordes gegen einen Sklavenhalter im Jahre 1846 ("Dred Scott case") am Supreme Court inWashington, bei dem der Täter freigesprochen wurde. Die Begründung des Gerichts lautete damals, dass Sklaven nicht Menschen sondern Sachen sind, bewegliches Eigentum, das man nicht ermorden könne.

SALON 'ZUM STEINLACHS'

Hinter der Vordergrundbühne entfaltet sich eine, auch farblich, hochgradig diffuse Szenerie, angefüllt mit Rausch, Begehren undVerfall. Die Szene von purer Lust im Mittelgrund schiebt sich über das grüngesichtige Opfer nach vorn und mündet in den großenFisch, der als wuchtige Metapher zusammenfasst: Nacktheit, funkelnde Sinnlichkeit und Schönheit.

Diese Gefühlsweit wäre unvollständig ohne ihr ewiges Pendant. Dem Genuss folgt der Widerpart als sein Schatten, der inbestimmten Konstellationen Empfindsame von Anfang an unglücklich beherrscht. ln dem ungemein labilen Seelenzustand kommen hocherotische Ausstrahlung, Hypochondrie und Pathos des Leidens zusammen.

Den hochgepeitschten Emotionen der Liebe antwortet in dem Vordergrund-Paar ein Zustand von Traurigkeit und Entsagung. DerFisch, das große Sex-Symbol, verbindet und trennt das ungleiche Paar.

Die entblößte junge Frau und der alte Kavalier verharren, abseits von Moralfragen, in der stillen Dramatik des Konflikts der ungleichenLiebenden.

ORSON WELLES, NACHDENKLICH

Orson Welles ist zwar als bildeinwärts gehende Rückenfigur wiedergegeben, erkennbar durchsein vom Maler praktischerweise auf dem Rücken angebrachten Bildnis. Mit dieser porträthaftbezeichneten Titelfigur beendet der Maler aber auch schon die Wiedergabe des Konkreten,des im Detail historisch Nachprüfbaren zu Person und Werk von Orson Welles.Statt dessen entfaltet sich um die Figur von Orson Welles die ganz eigene Imagination desMalers, ein malerisches Konglomerat von Partikeln, Teilgeschichten aus Vorstellung undWirklichkeit, bei dem eine Einheit von Handlung, Zeit und Raum nicht existiert. Die Zerstörungdes Raum-Zeit-Kontinuums und die Zersetzung des geschlossenen Handlungsablaufs, wiesie sich in der Kunst der Moderne herausgebildet haben, binden Gehses 'Hommage a OrsonWelles'-Bild und Orson Welles' filmkünstlerische Arbeit aneinander. Besonders dessen genialenErstling 'Citizen Kane' (1940), der seither immer wieder von internationalen Juroren andie Spitze der Filmbestenliste aller Zeiten gesetzt wird .


Das Ungewöhnliche und das Normale oder Banale sind hier - wie auch sonst in GehsesBildwelt- keine abgegrenzten Größen mehr, die in einem festen Bezugssystem stehen. Allesist fest und zugleich unfest, alles und jedes kann sich verändern.Ein Geschehen kann normal und schrecklich zugleich sein, wie das Normale und dasErschrecken darüber in diesem Bild überhaupt Ereignis geworden sind. Ganz augenfällig amrechten Bildrand, beim Turm der Köpfe bis hinauf zum Trompeter. Wie dieser die historische,über allem schwebende Figur des barocken Posaunenengels aufnimmt und nun eingeht indie schreckliche, diesseitige Form des Mannes, der - vielleicht als Mitglied eines KZ-Orchesters- um sein Leben bläst.Wenn man Orson Welles nachsagt, dass er keinen neuen Stil geschaffen habe, aber jederseiner Filme irgendwie 'Orson-Welleshaft' geraten sei, so ist das eigentlich der Ritterschlagfür jeden Künstler. Stilwerdung bedeutet notwendig Verfestigung, gleichsam ein Zubetonierender offenen künstlerischen Mache, ihre Überführung in lehrbares und lernbares künstlerischesRegelwerk. Der zwanghaften Verregelung, die uns in unserm Leben allerorts begegnet,antworten Orson Welles und Albrecht Gehse mit ihrer ganz persönlichen Willkür. Die istnicht trocken, chaotisch oder kriminell, sondern schöpferisch und aufreizend, was nicht nurFilmen und Ölbildern gut täte.Wenn wir etwas Persönliches, eine persönliche Hinwendung des Malers zu seinem bewundertenVorbild in der Filmkunst suchen, dann finden wir sie im landschaftlichen Hintergrundseines Bildes. Die abweisende Gebirgsnatur, die eisigen Höhen mit ihrer düsteren Schönheit,sie können wir als Parabel ansehen für Isolation und grandiose Düsternis in Leben undSterben des citizen Kane.

DER EWIGE MACHER

Die Hauptfigur ist eingebettet in einen assoziativen Zusammenhang mit anderen Phänomenen: mit einem schwebenden Kopf, einerverhüllten Frau und einem in ein sehnsuchtsvolles Finale eintauchenden Musiker. Sie befinden sich mitsamt einigen ausschnitthaften.bizarren Szenen in Kontrast zum Aktivismus der Vordergrundfigur. Sie sind das reflexive Element, malerisch verschlüsselteEinwendungen, Widersprüche, Warnungen zu der großen Gegenfigur in diesem Universalkonflikt."Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende." (Goethe, Maximen und Reflektionen)


Polypragmosyne

Zum Bild 'Der ewige Macher' von Albrecht Gehse


Wolfgang Maaz


Vor wem stürzt Gehses 'Ewiger Macher', dem der Blues in den Ohren klingen mag, der den Verlockungen der Lust den Rückenkehrt, eigentlich davon? Es wäre krude Didaxe, wenn man meinte: Er fliehe, in Panik geraten, gleichsam vor der eigenen aufgezwungenenExistenzform.Gehse, hier ganz 'pictor doctus', ruft vielmehr als Kronzeugen gegen den 'Ewigen Macher' die Prudentia, die kluge Voraussicht alsRepräsentantin der Lebenskunst auf. Das körperlose, aufmerksam und überlegen zugleich blickende Haupt, das genau diagonalzum Kopf des Weghetzenden situiert ist, evoziert Tizians Gemälde 'An Allegory of Prudence' (ca. 1560-1570, heute National Gallery,London). Es geht um die Selbstklugheit, um die Erkenntnis: Wenn unermüdlich vom 'Segen der Arbeit' geredet wird , so liegt demdie Furcht vor dem individuellen Leben zugrunde. Der blindwütige Fleiß des 'homo faber' verhindert eine Erneuerung der seit derAntike bestehenden Hochschätzung der Muße. Der ausgewogene Rhythmus zwischen dem das Lebensgefühl steigerndenTätigsein und der Muße, in der das Nachdenken, Grübeln, Träumen, Lieben, Sorgen und auch Hassen kultiviert werden kann, istganz im Sinne der Tizianischen Prudentia anzustreben.Gehses 'Ewiger Macher' steht in der Tradition des bereits im Mittelalter tradierten Mahnbildes. "Betrachter, vergiss nicht dass auchDu ein Vielgeschäftiger bist"! Gegen alle wildgewordenen Macher in allen Firmen undÄmtern dieser Welt stellt Gehse fest: Tätigsein entscheidet sich als kulturelle Frage.